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Dr. Morisse: "Ich bin mit dem für die Stadt Erreichten hoch zufrieden und natürlich auch mit meiner persönlichen Bilanz!"




Dr. Karl August Morisse

Pulheim - 14.08.09 - Der amtierende Bürgermeister der Stadt Pulheim, Dr. Karl August Morisse, hatte bereits frühzeitig erklärt, dass er für eine weitere Amtszeit für das Amt des Bürgermeisters nicht mehr zur Verfügung stehe. Wir nehmen den Abschied des Stadtoberhauptes zum Anlaß, ihn zu interviewen. - Zunächst Stichworte zu seiner politischen Karriere:

 

A Stichworte zur politischen Karriere von Dr. Karl August Morisse

 

1975 Gemeindedirektor in Pulheim, 1987 Wiederwahl nach 12 Jahren,

1995 Bestätigung, 1999 Einzelbewerber um das Amt des BM, bekam im zweiten Wahlgang 59 % Stimmen, 2004 Wiedergewählt mit knapp 66 % der Stimmen, 2009 Verzicht auf erneute Kandidatur.

 

 

B Das Interview

 

1

Was war Ihr Motiv, in 1975 das schöne Bonn am Rhein zu verlassen und Ihre Tätigkeit in einem Bundesministerium zugunsten von Pulheim aufzugeben?

 

Ich hatte in Bonn ein anspruchsvolles Arbeitsgebiet und Vorgesetzte, zu denen ich aufblicken konnte, dennoch war ich nicht rundum zufrieden.

 

Als ich im Frühjahr 1975 überraschend gefragt wurde, ob ich Interesse an einer Bewerbung als Gemeindedirektor in Pulheim hätte, habe ich spontan ja gesagt. Die kommunale Welt hat mich schon immer fasziniert. Ich hatte mir schon gegen Ende der Studienzeit gewünscht, eines Tages Stadtdirektor zu werden aber nie ernsthaft damit gerechnet, dass der Wunsch in Erfüllung gehen könnte. Nach der Anfrage bin ich sofort nach Pulheim gefahren und habe mir alle Orte der neuen Großgemeinde angesehen. Danach wusste ich, dass in Pulheim ein großes und bei weitem nicht ausgeschöpftes Entwicklungspotential steckt. Ich hatte die Herausforderung gefunden, die ich suchte.

 

Natürlich hat auch der Karrieresprung, der mit dem Wechsel nach Pulheim verbunden war, eine wichtige Rolle gespielt.

 

 

2

Könnten Sie einmal den „Zustand“ von Pulheim im Jahre 1975 skizzieren- wie sah das aus, damals? Die kommunale Gebietsreform ist am 1. Januar 1975 in Kraft getreten. Sie sind am 16.07.1975 als Gemeindedirektor gestartet. Pulheim hat seit dem 1. Januar 1981 Stadtrecht.

 

Pulheim hatte bereits 1975 viele Vorzüge. Zu ihnen gehörten und gehören die Gunst der Lage am Rande Kölns, seine unverwechselbaren, selbstbewussten und traditionsreichen Stadtteile, gute Schulen und Kindergärten, qualitätsvolle und gepflegte Wohnbereiche, viele intakte Gemeinschaften und anderes mehr. Es gab aber auch gravierende Defizite. Die neue Großgemeinde war bitterarm. Ihre Veranstaltungs- und Verwaltungskraft lag erheblich unter den Anforderungen der Zeit. Die öffentliche Infrastruktur war lückenhaft und das Angebot an Dienstleistungen und Waren des täglichen Bedarfs teilweise völlig unzulänglich.

 

Der Pulheimer Ortskern befand sich in einem desolaten Zustand und war zu klein, um seine Funktion erfüllen zu können.

 

Die Venloer Straße und ihr Umfeld waren unwirtlich. Über die damalige Bundesstraße quälte sich ein ununterbrochener Strom von PKWs, Lastwagen, Schwertransportern und Militärfahrzeugen mitten durch den Ort. Die Straßentrasse trennte den Kern in zwei Teile und die Verkehrsimmissionen überschritten die Grenzen des Erträglichen. Eine ungeordnete Bebauung, leerstehende, abbruchreife oder stark sanierungsbedürftige Häuser, mehrere Ruinen, ungenutzte Flächen und Stromleitungen an Masten prägten ihr Bild und großer Bereiche des Kerns. Die Bereitschaft, in ihn zu investieren, tendierte gegen Null. Es war offenkundig, dass er städtebaulich neu geordnet, ausgeweitet, vom Durchgangsverkehr befreit und von Grund auf saniert werden musste.

 

Auch in anderen Stadtteilen gab es städtebauliche Missstände. So verfiel beispielsweise in Brauweiler die seinerzeit noch als Landeskrankenhaus genutzte Abtei. Der Gebäudebestand an der wichtigen Ehrenfriedstraße war in erheblichem Umfang erneuerungsbedürftig und am Rande des Einkaufsbereiches stand auf einer ansonsten geräumten, großen öden Fläche eine abgebrannte Gaststätte.

 

 

3

Haben die Pulheimer Sie damals herzlich aufgenommen?

 

Der neue Gemeindedirektor war für die Bürgerinnen und Bürger ein unbekannter Fremder. Ich hatte mit Vorbehalten gerechnet, weil ich nicht aus dem Gemeindegebiet stammte. Die meisten Menschen waren jedoch von der ersten Stunde an offen und freundlich zu mir. Ich hatte den Eindruck, dass viele mit meinem Dienstantritt die Hoffnung auf Veränderungen verbanden. Allerdings war häufig erkennbar, dass meine Chancen, lang im Amt zu bleiben, nur als gering eingeschätzt wurden.

 

Im Rat war der Empfang nicht so gut. Aus politischen und anderen Gründen lehnten mich damals zahlreiche Ratsmitglieder ab und begegneten mir mit kühler bis eisiger Distanz.

 

 

4

Wenn Sie unseren Lesern in kurzen Worten erklären müssten, was macht die tägliche Arbeit eines Bürgermeisters aus?

 

Ein Bürgermeister muss seine Stadt voranbringen, dafür sorgen, dass die Verwaltung funktioniert und sich nachdrücklich dafür einsetzen, dass die Bürgerinnen und Bürger im Einklang mit ihrer Gemeinde leben können. Von ihm wird erwartet, dass er die städtischen Projekte vorantreibt, seine Kommune wirkungsvoll nach Außen vertritt, sich mit den Anliegen der Menschen möglichst persönlich befasst und durch den Besuch vieler Veranstaltungen deutlich macht, dass er sich ihnen verbunden fühlt.

 

Wer alle Anforderungen erfüllen will, hat nie genug Zeit und steht ständig unter Zeitdruck. Die Tage sind gefüllt mit Besprechungen, Verhandlungen, dem Studium wichtiger Akten, der Bearbeitung von Anträgen aus Politik und Bürgerschaft und Diktaten von Schriftsätzen, Briefen und Reden.

 

Ich befasse mich mit Allem, was die Bürgerschaft, den Rat, die Verwaltung oder mich bewegt. Auf der Agenda stehen Themen wie Stadtentwicklung, Schulen, Kindertagesstätten, Straßen und Kanäle, Gewerbeansiedlungen, Steuern, Gebühren, Personalfragen, Kulturprojekte und vieles andere mehr bis hin zu Beschwerden über Protokolle bei Parkverstößen. Während der üblichen Dienstzeit kann ich mich nur selten über einen längeren Zeitraum ungestört mit einem Vorgang befassen. Kurzfristig zu treffende Entscheidungen, Vorfälle, die eine sofortige Reaktion erfordern, dringende Anrufe und andere Ereignisse sorgen häufig für Unterbrechungen. Vieles kann ich deshalb nur an sitzungsfreien Abenden oder an veranstaltungsfreien Feiertagen und Wochenenden erledigen. Ich bin meiner Frau und meinen Kindern dankbar, dass sie mir den Freiraum gelassen haben, um meine Ämter so ausüben zu können, wie es meinen Vorstellungen entspricht und es die Bürgerschaft erwartet.

 

 

5

Wenn Sie eine Bilanz Ihrer Amtszeit als BM von Pulheim ziehen, wie sehe diese aus?

 

Es wird allseits anerkannt, dass sich Pulheim in den vergangenen drei Jahrzehnten hervorragend entwickelt hat. Aus einer Gemeinde, der die Entwicklung zu einem lebendigen Mittelzentrum nicht zugetraut wurde, ist eine Stadt geworden, die großes Ansehen genießt. Es ist alles ausgebildet, was auch nur ansatzweise in ihr angelegt war und darüber hinaus noch einiges mehr. Ein bekannter Immobilienführer für Köln und Umgebung hat die Wohnqualität in Pulheim bereits vor fünf Jahren mit fünf Sternen bewertet; mehr Sterne gibt es nicht. Die Stadt ist für den Wettbewerb um Menschen und Arbeitsplätze gut gerüstet. Der steile Aufstieg ist nicht das Werk eines Einzelnen oder mehrerer Einzelner, sondern eine Gemeinschaftsleistung von Rat, Verwaltung, Bürgerschaft, Persönlichkeiten aus allen politischen Ebenen und mir als Verwaltungschef.

 

Zwar hängt unendlich viel von den Gemeinwohlvorstellungen, dem Charakter und Wesen des Mannes - oder der Frau - an der Spitze ab. Er kann jedoch nur dann wirklich etwas bewegen, wenn sich der Rat oder die Ratsmehrheit auf bestimmte politische Ziele verständigt, Führungskraft besitzt und die Verwaltung aus innerer Überzeugung mitzieht.

 

Ich bin mit dem für die Stadt Erreichten hoch zufrieden und natürlich auch mit meiner persönlichen Bilanz. Der Rat und die Bürgerschaft haben wiederholt ihr Urteil über mich gefällt. Der Rat hat mich nach den ersten zwölf Jahren als Gemeinde- und später Stadtdirektor einstimmig wiedergewählt und bei der zweiten Kandidatur zum Bürgermeister habe ich von den Wählerinnen und Wählern knapp 66 % erhalten. Deutlicher können Urteile nicht ausfallen.

 

Während meiner Amtszeit hat niemand versucht, mich mit Drohungen dazu zu zwingen, entgegen meinen inneren Überzeugungen zu handeln. Ich weiss, dass es im Land Gemeinde- und Stadtdirektoren gab, die viele schlimme Zumutungen ertragen mussten und bin froh, dass mir das erspart geblieben ist. Ich verlasse das Rathaus ohne seelische Verletzungen oder Verhärtungen.

 

 

6

Auf welche Ergebnisse sind Sie dabei besonders stolz?

 

Als ich nach Pulheim kam, gab es eine Vision von der künftigen äußeren Gestalt und inneren Verfassung der neuen Großgemeinde. Sie wurde vielfach als Utopie, also als nicht realisierbarer Plan, belächelt. Ich bin stolz darauf, dass sie entgegen aller Prophezeiungen umgesetzt worden ist. Mich macht es besonders stolz, dass es gelungen ist, die vernachlässigte dörfliche Ortsmitte in eine städtebaulich ansprechende und lebendige Innenstadt zu verwandeln. Der Entwicklungsprozess hat über drei Jahrzehnte gedauert. Ich habe mich intensiv an ihm beteiligt.

 

Der Weg zum Erfolg war aus vielerlei Gründen steinig und führte lange am Abgrund des totalen Scheiterns vorbei. Das gravierendste Problem war, dass das Projekt nicht von breiter Zustimmung getragen, sondern massiv bekämpft wurde. Viele hundert Bürgerinnen und Bürger aus dem Ortskern lehnten das Sanierungsverfahren strikt ab. Sie wehrten sich gegen die Maßnahme mit Protesten, Eingaben an staatliche Stellen auf allen Ebenen sowie mit Gerichtsverfahren. Sie befürchteten, aus Ihrem vertrauten Umfeld vertrieben zu werden oder andere Nachteile zu erleiden.

 

Besonders stolz bin ich auch auf unser Rathaus. Es ist 1983 fertig geworden und hat zu einem Stimmungsumschwung im Ortskern geführt. Seine Architektur und die Verwendung der vom alten Rathaus vertrauten Materialien haben den Menschen die Sorge genommen, die Stadt plane eine Betonwelt im Stil der Zeit. Es gibt eine lange Liste von Maßnahmen, Projekten und Entwicklungen, die mich ebenfalls mit Stolz erfüllen. Dazu gehören auch einige, die Sie genannt haben. Besonders erwähnen möchte ich jedoch noch zwei andere. Das ist erstens die anspruchsvolle städtische Kulturarbeit mit ihren Aushängeschildern Synagogenprojekt und Stadtbildinterventionen und zweitens die Tatsache, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausschließlich nach den Kriterien Eignung, Befähigung und Leistung ausgesucht und befördert werden. Sonstige Umstände, wie die politische Bindung oder Ausrichtung, spielen keine Rolle; und dies hat Seltenheitswert.

 

 

7

Wer oder was hat Ihnen das Leben und aus welchen Gründen in dieser Zeit das Leben besonders schwer gemacht?

 

Die bedrückenden Umstände und völlig unrealistische Vorstellungen von der Leistungsfähigkeit der Gemeinde und der Verwaltung. Die Gemeinde hatte erschreckend wenig Geld. Der Mangel an frei verfügbaren Mitteln wirkte lähmend. Ich werde nie vergessen, dass ich eines Tages sogar ins Regierungspräsidium fahren musste, um die Zustimmung zum Kauf eines größeren Rasenmähers zu erhalten.

 

Zudem standen Rat und Verwaltung vor einem Berg aus unbewältigten, gravierenden und zugleich hochkomplexen Problemen aus der Vergangenheit.

Hinzu kam, dass zwischen der vorhandenen und der erforderlichen Verwaltungskraft eine große Lücke klaffte. Das lag nicht an den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, sondern hatte andere Ursachen. Ich nenne nur die schwerwiegendsten:

 

Die Verwaltung war eklatant unterbesetzt. Die Mitarbeiter stammten aus drei Verwaltungen mit unterschiedlicher Struktur, Kultur und Mentalität. Und zu allem Überfluss war die Verwaltung zunächst an sechs Stellen – davon je eine in Brauweiler und Stommeln - und später sogar an neun Standorten untergebracht. Trotz dieser und weiterer schwerer Handicaps wurde von ihr erwartet, dass sie nicht nur die täglich anfallenden Arbeiten erledigt, sondern zugleich auch den Problemstau schnell abbaut, die nicht finanzierte und auf schwankendem Boden stehende Ortskernsanierung in Gang bringt und für deutliche Fortschritte in anderen Bereichen sorgt.

 

Das war natürlich nicht leistbar. Deshalb suchten Einzelne nach einem Schuldigen. Als ich im Winter 1976/1977 nachts um halb zwölf nach einer anstrengenden Sitzung in eisiger Kälte auf dem Parkplatz gefragt wurde, ob ich eigentlich wisse, dass ich auf einer Rakete sitze, deren Antrieb bereits gezündet sei, stand fest, dass ich zum Schuldigen gestempelt werden sollte.

Der Startversuch scheiterte. Das war nicht nur für mich, sondern auch für die Gemeinde ein Glück. Sie brauchte nach den kurzen Amtszeiten meiner Vorgänger nichts dringender als Kontinuität an der Verwaltungsspitze.

 

 

8

Und die Presse?

 

In den vergangenen Jahrzehnten haben viele Journalistinnen und Journalisten die Öffentlichkeit über die Arbeit von Rat und Verwaltung und die Entwicklung der Stadt informiert. Die meisten haben sich strikt an den ehernen journalistischen Grundsatz gehalten, wahrheitsgemäß zu berichten und Bericht und Kommentar zu trennen. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar.

 

Es sind zeitweise allerdings auch sehr tendenziöse Artikel erschienen. Sie enthielten Unterstellungen, falsche Behauptungen, verfälschte Sachverhaltsdarstellungen oder waren eine Mischung von Kommentar und Bericht. Nach Belieben wurden der Rat, einzelne Fraktionen, die Verwaltung oder ich in den Augen der Öffentlichkeit herabgesetzt. Dies war nur schwer zu ertragen. Bisweilen bin ich um 5 Uhr aufgestanden, um nachzulesen, welches neues Versagen mir angedichtet wurde. Später habe ich begriffen, dass jeder, der ein öffentliches Amt ausübt, auch mit ungerechtfertigten oder sogar bösartigen Angriffen rechnen muss und dass dies eine Rahmenbedingung des Berufs ist. Insgesamt bin ich von der Presse fair behandelt worden.

 

 

9

Pulheim hat ein Haushaltsdefizit, welche Maßnahmen sind besonders geeignet, dieses zu beheben?

 

Pulheim muss seit vielen Jahren mit einem strukturellen Defizit leben, steht aber erheblich besser da, als viele andere Städte vergleichbarer Größe. Es ist über Jahrzehnte gelungen, die Finanzlücke durch außerordentliche Erträge, sparsame Haushaltsführung und Entnahmen aus der Rücklage zu schließen. Da die Ausgleichsrücklage endlich ist, die außerordentlichen Erträge zurückgehen werden und die Folgen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise auch die Stadt treffen, muss das Defizit beseitigt oder zumindest deutlich verringert werden.

 

Leider gibt es keine Maßnahme, die in besonderer Weise geeignet wäre, dies Ziel zu erreichen. Jede hat Auswirkungen auf die Bürgerschaft und keine reicht allein aus, um die Lücke zu schließen. Die Bürgerinnen und Bürger sagen, die Stadt muss mehr sparen. Sie meinen damit, dass sie weniger Geld ausgeben soll.

 

Sie haben vollkommen recht, wenn sie fordern, dass der Rat und die Verwaltung die städtischen Aufgaben so kostengünstig wie möglich erfüllen müssen. Da Pulheim aus finanziellen Gründen schon immer mit weniger Personal auskommen musste als andere und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein berufliches Interesse daran haben, mit dem vorhandenen Geld möglichst viel zu produzieren, gibt es im Verwaltungsvollzug derzeit allenfalls ein minimales Einsparpotenzial.

 

Es bleibt die Möglichkeit, Leistungen zu streichen, zu reduzieren oder vertraute Leistungsstandards zu senken. Man muss sich allerdings bewusst sein, dass alle Schritte mit Nachteilen für die Bürgerschaft verbunden sind. Der Umfang des Einsparpotenzials ist zudem begrenzt, weil es viele Leistungen gibt, zu denen die Stadt rechtlich verpflichtet ist und deren Umfang und Qualität durch den Staat festgelegt worden sind. Selbst wenn alle freiwilligen und halbfreiwilligen Leistung gestrichen würden, wäre weiterhin ein Defizit vorhanden.

 

Wenn alle Einsparungen nicht ausreichen, um eine Balance zwischen Einnahmen und Ausgaben herzustellen, müssen die Einnahmen erhöht werden. Eine Alternative ist, die Bürgerinnen und Bürger, die besondere städtische Leistungen in Anspruch nehmen, stärker an den Kosten zu beteiligen. Reicht dies nicht, bleibt als letzter Ausweg nur, die Steuern zu erhöhen. Obwohl dies erstaunlicherweise der leichteste Weg ist, weil Proteste gegen die Erhöhung relativ schnell abebben, hat die Stadt ihn seit Jahren bewusst nicht beschritten. In Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs passt eine Gewerbesteuererhöhung nicht in die Landschaft und eine Erhöhung der Grundsteuer würde auch Hauseigentümer und Mieter belasten, die schon jetzt jeden Euro zweimal umdrehen müssen.

 

Eine große Hilfe wäre, wenn der Staat die Stadt gänzlich oder teilweise von der Verpflichtung befreien würde, jährlich ca. vier Millionen Euro mehr in einen Topf für soziale Leistungen einzahlen zu müssen, als an Pulheimer Einwohnerinnen und Einwohner ausgezahlt wird. Trotz intensiver Anstrengungen ist es bislang nicht gelungen, eine Änderung der Rechtslage zu erreichen. Die Bemühungen müssen fortgesetzt werden.

 

 

10

Klimaschutz, demografischer Wandel, angespannter Haushalt – welches Problem wird Pulheim besonders hart treffen und wie dagegensteuern?

 

Das drückendste Problem wird die finanzielle Lage sein. Für die Bewältigung der Folgen des demographischen Wandels liegt ein tragfähiges Konzept vor. Wird es umgesetzt, werden die Veränderungen im Altersaufbau Pulheim nicht erschüttern. Der Klimaschutz ist für die nächsten Generationen von existenzieller Bedeutung. Wir müssen dazu beitragen, das der Anstieg der Erderwärmung gestoppt wird. Noch weiß niemand, wie viel Geld Pulheim in den nächsten Jahren und Jahrzehnten dafür ausgeben muss. Deshalb kann ich nicht einschätzen, ob die finanzielle Belastung die Stadt hart treffen wird.

 

 

11

Sie haben einmal zwei Grundtypen des Politikers unterschieden, den des populären Fachpolitikers und den des Querschnittspolitikers. Zu welchem Typ rechnen Sie sich?

 

Fachpolitiker wollen in Bereichen, die ihnen besonders am Herzen liegen, für spürbare Fortschritte sorgen. Sie fordern z. B. mehr Mittel für Schulen, die Jugendarbeit, die Kinderbetreuung, den Umwelt- und Klimaschutz, die Kultur und anderes mehr. Querschnittspolitiker kümmern sich darum, dass das System Stadt funktioniert und handlungsfähig bleibt. Sie fragen bei jeder neuen Forderung, ob die gewünschten Leistungen auf Dauer finanzierbar sind und welche Belastungen auf die Bürgerschaft zukommen.

 

Natürlich gibt es beide Politikertypen nur selten in Reinkultur. Auch Fachpolitiker wissen, dass die Finanzmasse begrenzt ist und auch Querschnittspolitiker erkennen, dass neue und gewichtige gesellschaftliche Bedürfnisse nicht ignoriert werden dürfen.

Der Tendenz nach bin ich mehr Querschnitts- als Fachpolitiker. Wenn ich nicht überzeugt bin, dass eine geforderte neue Leistung wirklich unabweisbar erforderlich ist, setze ich mich nachdrücklich dafür ein, sie nicht zu beschließen. Wer nicht nein sagen kann, ist für das Bürgermeisteramt ungeeignet.

 

 

12

Von außen beobachtet könnte man meinen, dass es nie Konflikte zwischen Ihnen und den Fraktionen im Rat der Stadt Pulheim gegeben hätte. Stehen Sie bewusst „über“ den politischen „Lagern“?

 

Es hat früher sehr harte Auseinandersetzungen zwischen Fraktionen und mir gegeben. Die Zeiten sind glücklicherweise längst vorbei. Danach gab es nur noch Konflikte in Sachfragen. Sie gehören zum Wesen der Demokratie.

 

Das Verhältnis zwischen den Fraktionen und mir ist seit langem von wechselseitigem Respekt geprägt. Ich habe große Achtung vor den Ratsmitgliedern. Sie nehmen ihre Verantwortung ernst und investieren viel Zeit und Kraft, um die Lebensverhältnisse in Pulheim weiter zu verbessern. Zudem erkennen sie neue gewichtige gesellschaftliche Bedürfnisse sehr früh. Für ihr Engagement erhalten sie nur eine geringfügige Aufwandsentschädigung, die häufig nicht einmal die Kosten deckt.

 

Die Ratsmitglieder, die Fraktionen und ich wollen das Gemeinwohl fördern. Im Einzelfall können die Vorstellungen davon, was dem allgemeinen Wohl am besten dient, sehr unterschiedlich sein. Alle sind jedoch gleichermaßen legitim und müssen deshalb unabhängig davon, aus welcher politischen Richtung sie stammen, ernst genommen werden. Das war meine Leitlinie. Ich habe mich mit allen Anregungen, Vorschlägen und Forderungen auseinander gesetzt, die Argumente geprüft, die für sie oder gegen sie sprechen und dann so entschieden oder abgestimmt, wie es meiner inneren Überzeugung entsprach.

 

Natürlich stehe ich nicht über den politischen Lagern. Das kann man nur von jemandem sagen, der nicht aktiv am politischen Entscheidungsprozess beteiligt ist. Diese Voraussetzung kann ich beim besten Willen nicht erfüllen. Ich war und bin – um in ihrem Bild zu bleiben – ein „eigenständiges, unabhängiges Lager“ und das hat auch meine Partei – die FDP – respektiert.

 

 

13

Aus den Reihen einer Fraktion im Rathaus hat man Ihnen vorgehalten, keine „Visionen“ für Pulheim mehr zu haben. Hat Sie das sehr getroffen?

 

Es war ein ärgerlicher Mückenstich. Wer viele Wahlkämpfe beobachtet hat, weiss, dass potentielle Kandidaten häufig als visionslos bezeichnet werden.

 

 

14

Hinterlassen Sie Ihrem Nachfolger ein gut „bestelltes Haus“?

 

Ja. Pulheim verfügt über eine Infrastruktur, die keinen Vergleich zu scheuen braucht und befindet sich in zahlreichen Bereichen an der Spitze der Bewegung. Die Verwaltung funktioniert und ist sehr produktiv.

 

Die für die Beurteilung der Vermögenslage wichtige Eigenkapitalquote liegt bei 36,2 %. Das ist nach Aussage des Wirtschaftsprüfers ein guter Wert.

Den Schulden stehen Sachwerte gegenüber und Dispositionskredite sind nur vorübergehend und für kurze Zeit in Anspruch genommen worden. Auch ansonsten gibt es keine „Leichen im Keller“.

 

Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise hat die finanzielle Lage Pulheims allerdings über Nacht erheblich verändert. Die Einnahmen aus dem Einkommensteueranteil werden in diesem Jahr um mehrere Millionen zurückgehen. Ich hätte meinem Nachfolger einen leichteren Start gewünscht.

 

 

15

Was geben Sie Ihrem Nachfolger besonders auf den Weg?

 

Das schreibe ich ihm in einem Brief, den ich bei meiner Verabschiedung übergeben werde. Er wird nur zwei Empfehlungen enthalten. Eine betrifft den Umgang mit der eigenen Zeit und die zweite soll dazu beitragen, dass er sein Amt viele Jahre lang ausüben kann.

 

 

16

Ist die sinkende Wahlbeteiligung auch bei den Kommunalwahlen ein Indiz für eine zunehmende Entfremdung der Bürgerinnen und Bürger zum „Politikbetrieb“? Was müsste man tun, um gegenzusteuern?

 

Auf Ihre spannende erste Frage hat bislang noch nicht einmal die Wissenschaft eine eindeutige Antwort gefunden. Es ist umstritten, ob eine sinkende Wahlbeteiligung eher als Krisenphänomen der Demokratie anzusehen ist, oder als Zeichen der Normalisierung.

 

Meines Erachtens ist sie allenfalls ein schwaches Indiz für eine zunehmende Entfremdung vom Politikbetrieb. Partei- und Politikverdrossenheit sowie Unzufriedenheit mit dem politischen System sind nur zwei von vielen möglichen Ursachen für Wahlenthaltung. So gibt es beispielsweise Bürgerinnen und Bürger, die nicht zur Wahl gehen, weil sie mit ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage unzufrieden sind. Zugleich gibt es andere, die sich deshalb nicht an Wahlen beteiligen, weil sie mit ihrer Lebenssituation zufrieden sind. Hinzu kommen kontinuierlich größer werdende gesellschaftliche Gruppen, in deren Leben Politik keine oder nur noch eine marginale Rolle spielt. Wir müssen zudem zur Kenntnis nehmen, dass Wählen längst nicht mehr als Bürgerpflicht verstanden wird.

 

Es gibt keinen Königsweg, der zu einer höheren Wahlbeteiligung führt. Ein Ansatzpunkt könnte sein, verstärkt über die Bedeutung des Wahlrechts zu informieren und vor allem immer wieder zu erklären, was die Politik leisten kann und was nicht.

 

 

17

Woher beziehen Sie Ihre Informationen und welchen Anteil hat dabei das Internet?

 

Ungezählte Stellen und Personen übermitteln der Stadt Fachinformationen. Ich muss die an mich persönlich gerichteten verarbeiten, eine Auswahl der an die Verwaltung adressierten lesen und vor allem den kontinuierlichen Informationsstrom aus der Verwaltung bewältigen.

 

Eine besonders wertvolle und wichtige Informationsquelle sind die Gespräche mit den Bürgerinnen und Bürgern.

 

Über das allgemeine Geschehen informiere ich mich beim Frühstück aus Zeitungen. Zudem nutze ich das Fernsehen. Das Internet spielt bislang nur eine relativ geringe Rolle; es tut mir leid, dass ich Ihnen das sagen muss. Ich nutze es, wenn ich Informationen benötige, die ohne großen Aufwand nur in ihm zu finden sind.

 

 

18

Wie hoch ist denn der Anteil an Ihrer Arbeit beim Repräsentieren und Verwalten?

 

Im Jahresdurchschnitt ist das Verhältnis ein Viertel zu drei Viertel und in veranstaltungsreichen Zeiten etwa ein Drittel zu zwei Drittel.

 

 

19

Wie werden Sie ihren Ruhestand verbringen? Und: Vermissen Sie dann nichts?

 

Ich freue mich darauf, mehr Zeit für meine Frau und die Kinder zu haben. Im Übrigen ist im Verlauf der Jahre Vieles liegen geblieben. Als erstes werde ich mich um die weitere energietechnische Sanierung unseres Hauses kümmern, Akten aufarbeiten und Computerkurse belegen. Zudem möchte ich mich endlich intensiver mit der spanischen Sprache befassen, mehr Sport treiben, Stapel von Büchern lesen und die persönlichen Kontakte intensiver pflegen, als dies bislang möglich war.

 

Bis Mitte nächsten Jahres habe ich noch eine wichtige Funktion in einem kommunalen Versicherungsunternehmen. Sollte ich mich danach unausgefüllt fühlen - was ich nicht erwarte – werde ich mich mit einem rechtswissenschaftlichen Thema befassen, das mich seit Jahren bewegt, oder eine Teilzeittätigkeit annehmen.

 

Ich weiß nicht, ob ich etwas vermissen werde. Ich vermute allerdings, dass mir die Kontakte zu den engeren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie zu den Ratsmitgliedern, denen ich mich besonders verbunden fühle, fehlen werden. – Interview/Foto: Dr. Ernst Hoplitschek

 


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